Die Figur der Medusa fasziniert und wird seit Jahrhunderten immer wieder als Motiv in der Kunst aufgegriffen. Ihre Darstellung mit dem ikonischen Schlangenhaar ist dabei häufig in einer Ambivalenz zwischen Schrecken und Schönheit gefangen. Das Liebieghaus Polychromy Research Project hat die Farben eines seltenen antiken Medusenhaupts aus dem „Ipogeo dei Cristallini“ in Neapel erforscht und eine farbige Rekonstruktion angefertigt.
In der griechischen Mythologie war Medusa eine von drei sogenannten „Gorgonen“ und die Schönste unter den Schwestern. Sie diente im Tempel der Athena, der Göttin der Weisheit. Eines Tages schlief der Meeresgott Poseidon, Widersacher der Athena, mit Medusa im Tempel der Göttin, dem Parthenon (wörtlich: „Jungfrauengemach“). Aus Zorn über die Schändung ihres Heiligtums verwandelte Athena Gorgo Medusa in eine furchterregende Kreatur mit großen Eckzähnen, Schlangenhaaren, einer gequetschten Nase, übergroßen Augen und einer langen, heraushängenden Zunge. In einer späteren Episode ist es der griechische Held Perseus, der der Gorgo Medusa den Kopf abschlägt und ihn seiner Unterstützerin, der Göttin Athena, übergibt. Diese heftete ihn auf ihren Brustpanzer, die „Aegis“ – einen Ziegenfellpanzer, den Athena bei ihrer Geburt von ihrem Vater Zeus erhalten hatte.
Wissenschaftliche Farbrekonstruktion der Athena aus dem Westgiebel des Tempels der Aphaia, Variante B
Vinzenz Brinkmann und Ulrike Koch-Brinkmann, 2005
Gipsabguss, Naturpigmente in Eitempera
(Original: Griechenland, Ägina, um 48o v. Chr., Marmor, Staatliche Antikensammlungen und Glyptothek, München, Inv. West I)
Foto: Liebieghaus Skulpturensammlung – Norbert Miguletz
Gorgoneion
Griechenland, ca. 550 v. Chr.
Marmor
Liebieghaus Skulpturensammlung
Foto: Liebieghaus Skulpturensammlung
Der Blick der Medusa ließ jeden, der ihr ins Gesicht sah, zu Stein erstarren. Aus diesem Grund schufen griechische Künstler sogenannte „Gorgoneia“, also Darstellungen des Kopfes der Gorgo Medusa. Diesen wurde eine abschreckende und zugleich beschützende Funktion nachgesagt. Die frühen Darstellungen aus dem 7. und 6. Jahrhundert v. Chr. zeigen sie als eben jenes furchterregende Ungeheuer. In den darauffolgenden Jahrhunderten fand jedoch eine Art Rückbesinnung auf ihre einstige Schönheit statt, und viele Darstellungen zeigen wieder ihre schönen Gesichtszüge, während die bedrohlichen Schlangen im Haar als charakteristisches Merkmal erhalten blieben.
In einer griechischen Grabanlage aus dem 4. Jahrhundert v. Chr., die sich im Stadtteil Sanità – also im Herzen Neapels – befindet und heute den Namen „Ipogeo dei Cristallini“ trägt, ist ein solches Gorgoneion zu bestaunen. Zu diesen Gräbern gelangt man über einen Hinterhof; dort führen zahlreiche Treppenstufen hinab auf das antike Straßenniveau. 1889 entdeckte Baron Giovanni di Donato beim Graben eines Brunnens im Hof seines Wohnpalastes die vier in den Fels eingetieften antiken Grabkammern. Besonders faszinierend ist die Grabkammer C, da sich ihre farbige Ausgestaltung in einem ungewöhnlich guten, überraschend frischen Zustand befindet.
Die Hauptkammer des Grabes C ist einem antiken Bankettsaal nachempfunden. Acht Klinen (Speiseliegen) mit Kissen – die offensichtlich über mehrere Jahrhunderte als Grablegen dienten – stehen an den Wänden. Darüber finden sich in großen Buchstaben die Namen der Verstorbenen. Girlanden schmücken die Wände, am Eingang steht ein bronzener Kandelaber und an der dazugehörigen Wand hängt eine metallene Prunkschale – selbstverständlich alles gemalt. Mit Schattenangaben, Glanzlichtern und fein in den Putz und die Farbe geritzten Details wurde hier mit großer Finesse illusionistische Malerei geschaffen. Auch der Terrazzoboden mit Mosaikeinlage ist in Wahrheit eine gemalte Täuschung.
Grab C im „Ipogeo dei Cristallini“ in Neapel
Foto: Liebieghaus Skulpturensammlung
In der Lünette der zentralen Wand befindet sich ein großes, aus Tuffstein gearbeitetes, dreidimensionales Gorgoneion. Es sitzt im Zentrum einer gemalten Aegis, die von züngelnden Schlangen gesäumt ist. Ein Lüftungsschlitz über der Tür erlaubte es vermutlich noch über Jahrhunderte hinweg, einen Blick in die geschlossene Grabkammer zu erhaschen – direkt in die Augen der Gorgo Medusa.
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Ende 2023 wurde das Team des Liebieghaus Polychromy Research Projects von der neapolitanischen Familie Martuscelli, Nachkommen des Baron di Donato, eingeladen, die erhaltene Farbigkeit sowie die Technik des Farbauftrags der Grabkammer C zu untersuchen. In mehrtägigen Forschungskampagnen wurde die Grabkammer intensiv studiert. Bereits zuvor hatte die Familie Martuscelli naturwissenschaftliche Untersuchungen der Farbmaterialien durch verschiedene italienische Institutionen, etwa das Istituto Centrale per il Restauro in Rom, veranlasst, die unser Team ergänzen konnte.
Unser besonderes Interesse galt der Farbigkeit der Medusa. Der Restaurator und Naturwissenschaftler Heinrich Piening, seit zwanzig Jahren Mitglied unseres Forschungsteams, bestimmte die verwendeten Farbmaterialien mithilfe der UV-Vis-Absorptionsspektroskopie (FORS). Dabei wird die Absorption von Licht auf Farboberflächen gemessen – eine berührungs- und zerstörungsfreie naturwissenschaftliche Untersuchungsmethode, die sich für mineralische Pigmente ebenso eignet wie für organische Farbstoffe. Fotographische Methoden mit UV- und Infrarotlicht lieferten ergänzende Informationen, sodass organische Farblacke und Ägyptisch Blau bereits vor Ort verlässlich bestimmt werden konnten.
Gorgoneion in der Grabkammer C im „Ipogeo dei Cristallini“
Foto: Liebieghaus Skulpturensammlung
Die malerische Ausführung der Farbgebung des Medusenhaupts wurde mit mehreren hundert Fotos dokumentiert. Die Auswertung der UV-Vis Messungen ergab, dass neben Ägyptisch Blau, Zinnober und Krapplack vor allem gelbe, rote und braune Eisenoxyde, wie Hämatit, für die Farbfassung des Medusengesichts verwendet wurden. Aufgrund des einzigartigen Erhaltungszustands legt die Bemalung ein eindrucksvolles Zeugnis für die revolutionäre Entwicklung der illusionistischen griechischen Malerei ab, die am Ende des 4. Jahrhunderts v. Chr. ihren ersten Höhepunkt erreicht hatte. Die nur gemalte Aegis mit ihren zahlreichen kleinen Schlangen ist ein wunderbares Beispiel für diesen virtuosen Umgang mit Licht und Schatten, der den Eindruck von Räumlichkeit erzeugt, und eine Einheit mit dem plastischen Gesicht der Medusa bildet.
Basierend auf einer experimentellen Rekonstruktion sollte das ursprüngliche Aussehen der Gorgo Medusa visualisiert werden. Mithilfe einer photogrammetrischen Vermessung des Gorgoneions wurde ein digitales 3D-Modell des Medusenhaupts erstellt und für einen 3D-Druck in Quarzsand im Maßstab 1:1 verwendet. Der dunkle, poröse Quarzsand besitzt ähnliche Eigenschaften wie der vulkanische Tuffstein des Originals. Im Gegensatz zu Marmoroberflächen, die selbst einen idealen Malgrund bilden, erfordert der dunkle, poröse Stein jedoch eine Grundierung vor dem Farbauftrag.
Unsere Untersuchungen zeigten, dass für den Farbauftrag eine Kombination aus Fresko-(Kalkmilch-) und Secco-(Tempera-)Technik verwendet wurde. Mit aktivem, aggressivem Sumpfkalk wurde zunächst eine sehr feine Grundierung von etwa 1-2 Millimetern Dicke aufgetragen. Wichtig dabei ist, während der Arbeit mit der Fresko-Technik eine vollständige Trocknung zu vermeiden, da der Kalk seine Bindekraft nur im feuchten Zustand bewahrt. Ist der Kalk einmal abgebunden, entsteht eine extrem haltbare Farbschicht.
Diese Kalkmilchmalerei eignet sich nur für die erste grobe Anlage der Farbfassung. Die Modellierung der Haut sowie die feinen Details der Augen, Wimpern und Augenbrauen wurden anschließend unter Verwendung organischer Bindemittel – in unserem Fall vermutlich Ei – in einer Tempera- bzw. Secco-Technik ausgeführt.
Archäologin Ulrike Koch-Brinkmann während der Arbeit in der offenen Schauwerkstatt im Liebieghaus
Foto: Liebieghaus Skulpturensammlung
Der Bemalungsprozess in Fresko-Technik muss zügig erfolgen – im Fall der hier vorgestellten Rekonstruktion war dieser binnen weniger Tage abgeschlossen. Im Gegensatz dazu gestalteten sich die notwendigen Vorbereitungen äußerst zeitintensiv: In zahlreichen Tests wurden die korrekten Mischungsverhältnisse von Sumpfkalk und Pigment ermittelt, da der endgültige Farbton erst nach vollständiger Trocknung erkennbar wird und erst dann mit dem Original abgeglichen werden kann. Zudem verlangt die Malerei mit Kalkmilch Erfahrung und Präzision, da jeder Pinselstrich auf Anhieb sitzen und möglichst exakt dem Original entsprechen muss.
Für die abschließende Bemalung in Secco-(Tempera-)Technik hingegen konnte man sich dann wieder mehr Zeit lassen. Der Malprozess, der von der Archäologin Ulrike Koch-Brinkmann in einer offenen Werkstatt durchgeführt wurde, konnte im Oktober 2024 abgeschlossen werden. Eingebettet war die neue Rekonstruktion in eine Projektschau mit dem Titel „Medusas Farben: Ein Projekt der Bunten Götter“ in den Galerien der Antikensammlung des Liebieghauses.
Wissenschaftliche Farbrekonstruktion eines Gorgoneions aus dem Ipogeo dei Cristallini (Neapel)
Vinzenz Brinkmann und Ulrike Koch-Brinkmann, 2024
3D-Print in Quarzsand, Naturpigmente in Fresko-(Kalkmilch-) und Secco-(Tempera-)Technik
(Original: Neapel, Ende 4. oder Anfang 3. Jh. v. Chr., Tuffstein)
Foto: Liebieghaus SKulpturensammlung
Ausstellungsansicht „Isa Genzken meets Liebieghaus“
Links die Farbrekonstruktion der Medusa, rechts Isa Genzkens „Flugzeugfenster (Medusa)“, 2011
Foto: Liebieghaus Skulpturensammlung – Norbert Miguletz
Aktuell – und noch bis zum 31. August 2025 – ist die Farbrekonstruktion als Teil der Sonderausstellung „Isa Genzken meets Liebieghaus“ zu sehen. Dort hängt sie einer Arbeit der zeitgenössischen Künstlerin Isa Genzken gegenüber, die den Titel „Flugzeugfenster (Medusa)“ (2011) trägt: Die Innenverkleidung einer Flugzeugwand mit zwei Fensteröffnungen ist überklebt mit dem Foto der Mona Lisa auf der linken Seite und einem Porträt der Künstlerin selbst auf der rechten, beide Blicke nach oben gerichtet. Überblendet werden die Bilder mit dem Motiv des berühmten Medusa-Schildes des Barock-Künstlers Caravaggio.