Ein Christuskind
für das Liebieghaus

Die Mittelalterabteilung der Liebieghaus Skulpturensammlung erhält einen ihrer bedeutendsten Neuzugänge der letzten Jahre: ein spätgotisches Christuskind aus der Zeit um 1470/75.

Ein ehemaliger Gast wird Teil der Sammlung

Die farbig gefasste und wirklichkeitsnah gestaltete Holzskulptur ist ein herausragendes Zeugnis von höchster künstlerischer Qualität und wurde mit Unterstützung der Ernst von Siemens Kunststiftung und Mitteln aus dem Nachlass Wirthle erworben. Die Figur stammt aus Privatbesitz und war bereits 2011 im Liebieghaus zu sehen, in der Ausstellung zu dem wegweisenden niederländischen Bildhauer Niclaus Gerhaert von Leyden (um 1430–1473).

Erfüllung eines lang gehegten Wunschs

Der Wunsch, ein Christuskind dieser Art anzukaufen, bestand schon lange. Auf dem Kunstmarkt waren Skulpturen in dieser Qualität in den vergangenen Jahrzehnten aber nicht zu haben. Die Figur dürfte aus Ulm, genauer aus dem Atelier Michel Erharts (um 1440/45 – nach 1522) stammen und zählt zu den schönsten ihrer Art. Das zeigt sich nicht nur in der Durchbildung des Körpers und dem lebendig aufgefassten Gesicht. Auch die gut erhaltene originale Polychromie entspricht maltechnisch sehr genau den typischen Fassgepflogenheiten der Erhart-Werke. Diese Neuerwerbung von ungewöhnlicher Größe – sie misst 63,5 cm in der Höhe – ergänzt unsere Mittelaltersammlung hervorragend, umfasst diese doch bereits andere bedeutende Skulpturen aus der Erhart'schen Werkstatt, wie die große Marienstatue aus Dellmensingen, eine Büste der Heiligen Barbara oder zwei Prophetenbüsten aus der Blütezeit der Werkstatt (um 1490/95).

Handfeste Hilfsmittel bei der Identifikation mit Maria

Als selbständige Figuren sind geschnitzte Christuskinder seit dem 14. Jahrhundert bekannt und waren zunächst insbesondere mit Frauenorden verbunden. Diesseits der Alpen haben sich in süddeutschen Frauenklöstern die ältesten, qualitätsvollsten und größten Exemplare erhalten. Erst später, seit dem ausgehenden 15. Jahrhundert, eroberten die „Jesulein“ – zumeist in kleinerem Format – auch das religiöse Leben außerhalb der Klostermauern, wo sie zur Weihnachtszeit in bürgerlichen Haushalten und in den Pfarrkirchen an die Geburt Christi erinnerten. Derartige Bildwerke gehörten auch zur Mitgift der Novizinnen beim Eintritt ins Kloster und zu den zentralen Andachtsgegenständen der Nonnen. Sie dienten insbesondere in der Weihnachtszeit als Medium der Identifizierung mit der Heiligen Jungfrau und halfen, die Sorgen und Freuden Marias als junge Mutter nachzuvollziehen. Dazu gehörte auch ein ganz handfester Umgang: Um das mütterliche Handeln Marias am eigenen Leib nachzuerleben, wurden die Figuren bekleidet, liebkost, gewiegt – also wie reale Kinder behandelt. Eine möglichst wirklichkeitsnahe und lebendige Gestaltung war in diesem Kontext dienlich. In Schwaben kursierten seit etwa 1470 diesbezüglich überragende Exemplare, vor allem in den Werkstätten von Michel Erhart und seines in Augsburg tätigen Sohnes Gregor (1470–1540) sowie deren Kreis.

Spuren des historischen Gebrauchs

Das etwas unsicher dastehende Kleinkind dürfte ursprünglich seine rechte Hand segnend erhoben und mit der linken eine Weltkugel, einen Reichsapfel oder ähnliches, gehalten haben. Heute sind beide Unterarme verloren. Das erklärt sich aus dem oben beschriebenen Gebrauch der Figur. Die Gliedmaßen dürften einst abgesägt worden sein, um das Be- und Entkleiden zu erleichtern. Andere Gebrauchsspuren finden sich an der Bemalung, die durch Anfassen und das Scheuern der Kleidung vor allem am Geschlecht und am Rücken (weniger stark an Brust, Hüfte und Beinen) partiell gelitten hat.

Das Christuskind ist in der Mittelalterabteilung des Museums zu sehen und wird dort gemeinsam mit zwei weiteren Christuskindern aus der Sammlung des Liebieghauses präsentiert.

Autor:

Dr. Stefan Roller

Leiter der Abteilung Mittelalter

Verwandte Artikel