Bei einem Besuch der Kabinettausstellung „In neuem Glanz. Das restaurierte Schächer-Fragment des Meisters von Flémalle im Kontext“ werden sich einige Besucher sicherlich die Frage stellen, was eine Schau, die ein Gemälde aus der Sammlung des Städel Museums in den Mittelpunkt stellt, mit der Liebieghaus Skulpturensammlung zu tun hat.
Raumansicht in der Ausstellung „Das restaurierte Schächer-Fragment des Meisters von Flémalle im Kontext“
Die Kabinettausstellung „In neuem Glanz. Das restaurierte Schächer-Fragment des Meisters von Flémalle im Kontext“ war vom 15. November 2017 bis 18. Februar 2018 im Liebieghaus zu sehen.
Die Präsentation zum restaurierten Schächer-Fragment des Meisters von Flémalle ist im mittleren Saal der Mittelalterabteilung zu sehen – und damit nicht ohne Grund dort, wo normalerweise der Rimini-Altar seinen Platz hat. Schließlich besitzen wir in unserer Skulpturensammlung hochkarätige Figuren, mit deren Hilfe wichtige Aspekte der Schächer-Tafel wie auch der übrigen in der Ausstellung gezeigten Städel Gemälde des Flémaller Meisters erklärt oder zumindest erhellt werden können. Überdies treiben wir momentan auch im Liebieghaus selbst bedeutende Restaurierungsprojekte voran, in deren Zentrum gleich zwei Hauptwerke unserer Mittelaltersammlung stehen. Beide sind nicht nur zeitgleich mit dem Schächer-Fragment und den Flémaller Tafeln entstanden, sondern demonstrieren darüber hinaus engste Beziehungen zur Ars nova, wie man die neuartige Kunst der Gebrüder van Eyck, des Flémaller Meisters und Rogier van der Weydens bezeichnet. Es handelt sich zum einen um den Rimini-Altar und zum anderen um den sogenannten Gnadenstuhl Hans Multschers, eine Trinitätsdarstellung von herausragender künstlerischer Qualität.
Vom Rimini-Altar stellen wir die beiden Schächer-Gruppen aus, die thematisch, aber auch in ihrem teilweise drastischen Realismus enge Bezüge zum Schächer-Fragment offenbaren. Der plausibelsten These nach entstanden die Figuren in der Werkstatt des in Brügge ansässigen Alabasterspezialisten Gilles de Backere. Dieser arbeitete nachweislich für Philipp den Guten (1396–1467), den Herzog von Burgund, und damit im selben Auftraggebermilieu wie die Maler der Ars nova. Angesichts dessen ist es vermutlich kein Zufall, wenn ein aus Privatbesitz entliehenes Schächer-Fragment aus Alabaster, das in der Werkstatt des Rimini-Meisters entstand, motivisch offenkundig Bezug auf das Flémaller Kreuzabnahmetriptychon nimmt – wird doch als Aufstellungsort des letzteren ausgerechnet eine Kirche in Brügge vermutet, in eben jener Stadt, in der wahrscheinlich auch die Rimini-Werkstatt ansässig war.
Schächer zur Rechten Christi, Rimini-Altar, um 1430, Privatsammlung
Schächergruppe des Rimini-Altars aus der Liebieghaus Skulpturensammlung, um 1430
Eines der schönsten Stücke der Mittelaltersammlung des Liebieghauses ist zweifellos Hans Multschers Trinitätsdarstellung, allgemein als Gnadenstuhl oder Dreifaltigkeit bezeichnet. Das kleine Relief mit dem von einem trauernden Engel gehaltenen Leichnam Christi, Gottvater und der Heilig-Geist-Taube ist wie die Bildwerke des Rimini-Altars aus Alabaster geschnitzt. Multschers Arbeit ist von sublimster Ausführung und zählt nicht nur zu den herausragenden Zeugnissen der Alabasterkunst dieser Jahre, sondern der damaligen Bildhauerkunst überhaupt. Das in der Anordnung seiner Figuren sehr dicht komponierte und in der Vermengung verschiedener Bildtypen ikonografisch überraschende Werk darf als eines der skulpturalen Paradestücke der zeitgleich in den Niederlanden aufkommenden Ars nova gelten, obwohl es um 1430 in Ulm von einem schwäbischen Schnitzer geschaffen wurde, möglicherweise für Herzog Ludwig den Bärtigen von Bayern-Ingolstadt.
Hans Multschers Trinitätsdarstellung in der Ausstellung
In dem virtuos geschilderten Detailrealismus, der überaus genauen Wiedergabe anatomischer wie physiognomischer Einzelheiten, der glaubhaften Bewegung seiner Figuren, aber auch im emotionalen Ausdruck der Trinitätsdarstellung artikuliert sich ein Künstler, der zu den allerbesten seiner Zeit zu rechnen ist. Zusammen mit der originalen, ungemein feinen und differenzierten Bemalung, die unser Restaurator Harald Theiss derzeit freilegt, nachreinigt und – wo nötig bzw. möglich – ergänzt, verkörpert diese Figurengruppe das perfekte Äquivalent zur Malerei der van Eycks oder des Flémaller Meisters. Die Gegenüberstellung von Gemälden und Relief demonstriert dies auf das Eindrucksvollste, wenngleich in der Ausstellung „nur“ ein Zwischenzustand der Restaurierungsarbeiten an der Figurengruppe präsentiert wird.
Gesamtansicht des Gnadenstuhls vor der Restaurierung
Zwischenzustand während der Restaurierung: links vor der Behandlung, rechts nach der Behandlung
Die enge Verwandtschaft zu den frühen niederländischen Malern ist kein Zufall. Die Kunstgeschichte geht allgemein davon aus, dass sich der aus dem Allgäu stammende Schwabe Hans Multscher nach seiner Ausbildung auf Wanderschaft ins französische Burgund, insbesondere nach Dijon, aber auch in die südlichen Niederlande begab, um die Avantgarde der Bildhauer und Maler seiner Zeit zu studieren. Ein Blick auf die Köpfe Gottvaters und des Engels eröffnet viele Parallelen zu den Figurentypen der van Eycks, sodass eine Kenntnis ihrer Bilder vorausgesetzt werden darf.
Multschers Trinitätsrelief mit dem bis auf sein Lendentuch unbekleideten Christusleichnam gehört zu den fortschrittlichsten und eindrucksvollsten plastischen Darstellungen des nackten Menschen in den Anfängen des 15. Jahrhunderts. Plastische Form und Malerei gehen hier eine perfekte Symbiose ein. Selbst im unfertigen Zustand kann bestaunt werden, wie fein die Malerei ist und welch grandiose Ergänzung der Skulptur sie darstellt. Es handelt sich um ein erstklassiges Beispiel für die von Anfang an intendierte Verschmelzung der Gattungen: Erst beide zusammen – plastische Form und farbige Fassung – machen das vollständige Kunstwerk aus, was sich anhand dieses Objekts hervorragend nachvollziehen lässt.
Raumansicht in der Ausstellung mit den Schächern des Rimini-Altars
Die in der Ausstellung zum Schächer-Fragment gezeigten Skulpturen des Liebieghauses demonstrieren, dass Malerei und Skulptur auf vielfache Weise aufeinander bezogen sind: Die plastischen Bildwerke werfen ein besonderes Licht auf die frühen niederländischen Tafelgemälde; die Bilder wiederum helfen uns, die Skulpturen besser zu begreifen. Insofern ermöglicht die Kabinettpräsentation eine Vielzahl überraschender und spannender Erkenntnisgewinne mit Blick auf das Zusammenspiel und die Abhängigkeiten beider Gattungen.