Schwerelos und virtuos

Mit dem Ankauf zweier spätmittelalterlicher Engelsfiguren aus Nürnberg erhielt die Abteilung Mittelalter ein vorweihnachtliches Geschenk, das die Sammlung in gelungener Weise ergänzt.

Ein glücklicher Zufall

Einem glücklichen Zufall ist es zu verdanken, dass seit kurzem ein ganz besonderer Ankauf die Abteilung Mittelalter im Liebieghaus bereichert: Zwei spätgotische fliegende Engel, die als Beispiel Nürnberger Schnitzkunst um 1500 nicht nur durch ihre besondere Virtuosität begeistern, sind in den großen Mittelaltersaal eingezogen. Sie stammen aus der Sammlung Thomas Hinckeldey aus Dortmund, dessen in Frankfurt lebende Tochter sie der Liebieghaus Skulpturensammlung anbot. Dass es sich bei den in Albe und Chormantel gekleideten jugendlichen Figuren, deren lange lockige Mähnen durch einen gewundenen Reif, die so genannte Schapel gebändigt werden, tatsächlich um Engel handelt, beweisen die schmalen hochrechteckigen Ausarbeitungen auf dem Rücken der beiden. Dort waren ursprünglich die heute verlorenen Flügel eingesetzt, die die Konturen der Bildwerke noch zusätzlich in Bewegung versetzten und zusammen mit den wie im Wind aufgebauschten Mänteln den Eindruck erweckten, die Engel würden durch die Lüfte fliegen, obwohl sie ursprünglich an eine (Schrein-)Wand montiert gewesen sein dürften, wie ihre ausgehöhlten Rückseiten nahelegen.

Wertvoller Neuzugang

Der Ankauf ist aus mehreren Gründen eine großartige Bereicherung für die Sammlung. Anders als in anderen Regionen während der Reformation überlebten in Nürnberg zahlreiche Altäre und Epitaphien, Skulpturen und Gemälde. Ausstattungen von Kirchen und Kapellen wurden nicht rabiat zerstört, sondern oftmals am Ort erhalten und, wenn Gotteshäuser umfunktioniert oder abgerissen wurden, deponiert und nur selten veräußert. Erst im Laufe des 19. Jahrhunderts wurden Objekte vermehrt im Zuge der Übernahme der Reichsstadt durch das Königreich Bayern nach München zwangsüberführt oder gelangten auf den sich ausbildenden privaten Kunstmarkt. Daher sind Nürnberger Kunstwerke des Mittelalters außer im Bayerischen Nationalmuseum München oder dem Germanischen Nationalmuseum in Nürnberg überraschend selten in öffentlichen Sammlungen anzutreffen. Doch nicht nur diese Besonderheit, sondern auch ihr recht guter Erhaltungszustand macht die beiden Neuzugänge für unser Haus so wertvoll.

Rätselhafte Größe

Mit rund 85 Zentimetern sind die beiden für fliegende Engelsfiguren ungewöhnlich groß. Zunächst denkt man bei derlei Skulpturen unwillkürlich an das häufig zu findende Engelspaar, das Maria die Krone der Himmelskönigin auf das Haupt setzt. Doch sind sie bei lebensgroßen Marienstatuen stets deutlich kleiner. Die zugehörige Madonna hätte geradezu abwegig riesige Ausmaße besitzen müssen! Außerdem hielten die beiden ganz eindeutig nie etwas in der Hand. Die Gebärde ihrer Hände erinnert beim linken eher an einen Zeigegestus und bleibt beim rechten gänzlich unbestimmbar. Die Größe der Figuren lässt auch einen Kontext mit einer Darstellung der Geburt Christi recht unwahrscheinlich werden. Als isoliertes Engelspaar sind die beiden aber ebenso undenkbar. Zweifellos waren sie Teil eines szenischen skulpturalen Ensembles.

Infrage kommen diesbezüglich am ehesten zwei Darstellungen: Maria, die nach ihrem Tod von Engeln in den Himmel gebracht wird und die Erhebung der hl. Maria Magdalena, die der Legende zufolge nach dem Tode Christi, dessen treue Jüngerin sie war und dessen Auferstehung sie als eine der ersten bezeugte, als Eremitin in Südfrankreich lebte. 30 Jahre lang wurde sie täglich von Engeln in den Himmel erhoben, wo sie geistige Nahrung erhielt.

Für beide Darstellungen gibt es berühmte Beispiele des Würzburger Bildschnitzers Tilman Riemenschneider (ca.1460-1531): Im Marienaltar der Herrgottskirche in Creglingen (um 1505/1510) umfliegen fünf überdurchschnittlich große Engel die zentrale in den Himmel auffahrende Marienfigur, und im etwas älteren Hochaltar der Magdalenenkirche in Münnerstadt (1490-1492) sind es sechs ähnlich dimensionierte Engel, die die ganz in Fell gewandete lebensgroße Magdalena zu beiden Seiten flankieren (Originale im Bayerischen Nationalmuseum) und schwebend in den Himmel erheben. In beiden Fällen bleiben die Gesten der Hände relativ unbestimmt, suggerieren eher ein Geleiten der Heiligen als ein aktives Heben. Das erinnert stark an die Gebärden der neu erworbenen Engel im Liebieghaus und mag deren ursprünglichen Kontext zumindest ansatzweise erklären.

Entstehung und Eingriffe

Beiden Engeln wurde der Kopf abgesägt. Zumindest beim linken diente dies offenkundig dazu, seine Position durch das Einsetzen eines Holzkeiles zu verändern, so dass er jetzt geradezu neckisch über seine rechte Schulter nach unten blickt. Es mag sich um einen Eingriff aus späterer Zeit handeln. Wir können aber auch nicht ausschließen, dass wir es mit einer zeitgenössischen Korrektur zu tun haben, um die doch recht starr wirkende bildparallele Ausrichtung der Engel etwas aufzulockern und einen Bezug zum Betrachter herzustellen.

Die wie im Wind wehenden und damit den Eindruck des Fliegens erweckenden Mäntel sind von großer schnitzerischer Virtuosität geprägt. Ihre starke Bewegung kann bei der Datierung der Engel helfen. Klar ist, dass beide der qualitativ anspruchsvollen Nürnberger Bildschnitzerkunst zuzurechnen sind, wie sie sich in der Nachfolge der Werkstatt des Hochaltars für die Zwickauer Marienkirche (1479) herausbildet. Problemlos lassen sich die Figuren an etliche Nürnberger Werke der 1480/1490er Jahre anbinden. Die offenbar ganz bewusst handwerkliche Meisterschaft zur Schau stellende Ausführung der auf wenige Millimeter gedünnten Schale der stark bewegten Mäntel verweist indes bereits auf einen Künstler, der die mitteleuropäische Bildhauerei zwischen 1480 und 1520 maßgeblich mitbestimmte und zu den eigenständigsten Rezipienten und wichtigsten Nachfolgern des großen Niederländers Niclaus Gerhaert von Leyden (um 1430-1473) zu zählen ist: den in Horb am Neckar geborenen Veit Stoß (um 1447-1533), der nach einem Aufenthalt in Nürnberg 1477 nach Krakau übersiedelt, dort rasant Karriere macht und 1496 nach Nürnberg zurückkehrt. Sein ausgeprägt bewegter und ausgesprochen virtuoser Stil muss für die etablierten Bildhauer und Schnitzer in Nürnberg eine große Herausforderung dargestellt haben, auf die zu reagieren geboten war, wollte man weiterhin im Geschäft bleiben. In formaler wie handwerklicher Hinsicht scheint dies an unseren Engeln ablesbar. Sie dürfen als Beispiel dieser am Stil des Veit Stoß orientierten neuen Ausrichtung der Nürnberger Bildhauerkunst gelten und werden um 1500 entstanden sein.

Autor:

Dr. Stefan Roller

Leiter der Abteilung Mittelalter

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