Die Vorbereitung zu einer Ausstellung gibt stets auch Anlass, sich mit Objekten der eigenen Sammlung zu beschäftigen. Dabei ergeben sich oftmals neue Erkenntnisse.
Die Schau Heilige Nacht. Die Weihnachtsgeschichte und ihre Bilderwelt (12. Oktober 2016 bis 29. Januar 2017) erzählte die Weihnachtsgeschichte mit ihren Ergänzungen, die die biblische Schilderung im Laufe des Frühchristentums und des Mittelalters erfahren hat. Die Beschäftigung mit diesen oftmals unbekannten erzählerischen Details, aber auch das Auffrischen eigentlich bekannter, aber weitgehend vergessener Episoden und Motive, lässt auch so manches Objekt des Liebieghauses in anderem Licht erscheinen und führt zu neuen Deutungen oder zu ikonografischer Konkretisierung.
Verdeutlicht sei dies an einer Marienfigur, die im Jahre 1912 für unser Museum erworben wurde und Teil der laufenden Ausstellung ist. Seit jeher galt die farbig gefasste Holzskulptur mit der Inventarnummer 345 als die Maria einer Heimsuchung, der biblischen Szene also, in der die schwangere Maria ihre Verwandte Elisabeth besucht, die noch in hohem Alter ebenfalls durch Gottes Hilfe ihr Kind (Johannes den Täufer) empfangen hat. In der Regel wird dies durch den Moment der herzlichen Begrüßung beider Frauen dargestellt. Während die angenommene Entstehungsregion dieser feinen und überaus anmutigen Skulptur in Schwaben schon immer einhellig Zustimmung fand, wurde der Zeitraum ihrer Entstehung in den letzten Jahren vom Ende des 15. Jahrhunderts revidiert. Inzwischen gehen wir von den Jahren um 1520 aus.
Maria in der Hoffnung, Schwaben, Anfang 16. Jh., Lindenholz gefasst
Liebieghaus Skulpturensammlung, Frankfurt am Main
An der ikonografischen Interpretation der Statue, die ihre rechte Hand schützend über den hochschwangeren Leib und mit der linken Hand ein geöffnetes Buch hält, in dem sie liest, änderte sich indes nichts. Erst im Zuge der Ausstellungsvorbereitung erkannten wir den eigentlichen Sinngehalt dieser Figur: Es handelt sich um eine Maria in der Hoffnung alias Maria gravida oder Maria in Erwartung, eine Darstellung der schwangeren Maria also, die im 14. Jahrhundert zum eigenständigen Bildthema wurde, das in Malerei und Skulptur besonders in der Adventszeit Anlass bot, sich andächtig mit der Schwangerschaft Marias zu beschäftigen. Bis ins 18. Jahrhundert wurde am 18. Dezember an Marias freudige Erwartung des Kindes erinnert. Bei dieser Gelegenheit dürften derartige Marienfiguren auf den Altartisch gestellt worden sein. In Süddeutschland und Österreich wissen wir, dass in der Adventszeit mit diesen Statuen die Herbergssuche in Bethlehem mit prozessionsartigen Umzügen nachgestellt wurde. Dabei erhielt die schwangere Maria nun Herberge in den Häusern der gläubigen Christen, ein vorbildliches Verhalten, das durchaus als Kritik gegenüber den Juden zu werten ist, die der hochschwangeren Maria seinerzeit keine Unterkunft gewährten.
Maria in der Hoffnung, Niederbayern, um 1520/25
Bayerisches Nationalmuseum, München
Marien von Heimsuchungsgruppen sind kompositorisch immer auf ihr Gegenüber, also Elisabeth, ausgerichtet. In den meisten Fällen umarmen beide Frauen einander oder berühren sich zumindest. Die Konzentration Marias auf ein Buch wäre vollkommen atypisch und dem Thema nicht sinngemäß. Doch ragt die Liebieghaus Maria aus dem Gros entsprechender Darstellungen heraus. In den meisten Fällen nämlich besitzen (oder besaßen) Maria-gravida-Figuren eine Öffnung im Bauch, in der ein kleines Figürchen des ungeborenen Jesuskindes sichtbar war oder durch Abnehmen eines Deckels sichtbar gemacht werden konnte. Es ging um eine möglichst eindrucksvolle Vergegenwärtigung des Mysteriums der unbefleckten Empfängnis und des Heranwachsens des göttlichen Sohnes im Mutterleib. Die Figur des Liebieghauses lässt – bis auf ihren dicken Bauch – derartige Sinnfälligkeiten vermissen. Doch ist zu vermuten, dass der angeschwollene Bauch entsprechend gekennzeichnet war durch ein aufgemaltes Kind im Strahlenkranz, durch ein Christuszeichen oder ähnliches, wie wir es von diversen spätmittelalterlichen Gemälden her kennen. So markiert etwa in einer 1406 entstandenen Regensburger Handschrift in der Bayerischen Staatsbibliothek in München (Clm 14045, fol. 41v) ein vergoldeter Strahlenkranz auf dem blau gewandeten Leib Marias dessen heiligen Inhalt.
Spätmittelalterliche Bildwerke der Maria in der Hoffnung mit einem skulptierten Jesuskind in der Bauchöffnung gibt es vor allem im süddeutschen und böhmischen Bereich. Aber auch in Portugal finden sich Beispiele. Dem Typus ohne Kind hingegen begegnen wir seltener im deutschen Raum. Bei allen Vertretern dieses Themas, sei es mit Kind oder ohne, vermissen wir jedoch das Buch, in dem die Frankfurter Maria liest. Uns ist bislang kein anderes Beispiel dafür in der Bildhauerei begegnet. Es dürfte sich dabei um ein Motiv handeln, das aus der Malerei übernommen wurde. Dort ist es immer wieder einmal anzutreffen, so etwa in der Servitenkirche in Bologna (Vitale di Bologna, 1355) oder im Servitenkloster Monte Berico in Vicenza (Battista di Vicenza, um 1375).